Text-Archiv Kunstladen101

Eine nie dokumentierte Performance bezüglich dessen, woran wir uns erinnern wollen.
Galerie der Gegenwart- Galerie der gegenwärtigen Vergangenheit – Galerie der gegenwärtigen Vergänglichkeit


Es war einmal in der Galerie der gegenwärtigen Vergangenheit


In der Mitte des Jahres 1991 stellten in einigen Räumen der Hamburger Kunsthalle

zwei junge Künstler, Huber und Kummer, ihre Arbeiten installativen Charakters aus.

Ich nahm an einer Führung durch die von den Künstlern gestalteten Räume teil.
Die Künstler und der neue Kunsthallen-Direktor, Uwe M. Schneede, warenanwesend.
Hin und wieder ergriff Herr Schneede das Wort; er sprach von kommenden 
Veränderungen in der alten Kunsthalle von der neu einzubauenden Klimaanlage…
und besonders häufig von der neuen Wandbespannung.
Wir standen in einem Raum, in dem eine Arbeit mit dem Titel „Glasaugen“ installiert 
war. Uwe M. Schneede betonte, daß die bisher hier hängenden Gemälde nicht etwa 
der Renovierung wegen abgehängt wurden, sondern daß die gemäldelosen Wände
mit den ‚Glasaugen’ korrespondierten.er vertiefte noch einmal diesen künstlerischen 
Aspekt und kam dann wieder auf die Klimaanlage und die „neue“ Wandbespannung 
zu sprechen…“Sie sehen ja selber…“    -
Ja, ich sah selber, die eingerissene alte, so alte, Wandbespannung -
Seide  - Nachkriegsware ? – ja es muß Nachkriegsware sein, die alte Kunsthalle      
soll ja kräftig bei den Bombardements was abgekriegt haben. Wie wohl die erste 
Wandbespannung nach dem Kriege in die Kunsthalle kam?
Was vorher alles war?..... Wasserflecken hier und da und die leicht angedeuteten 
Spuren von ehemals davor Gehangenem. Alle Teilnehmenden in der Gruppe 
schüttelten, nickten mitleidig bejahend den Kopf. “Ja, ja, da muß was passieren, 
da muß neue Bespannung her“ …
Die Führung war vorbei.
Führerlos und den Kopf voller Herzgebummer trollerte ich einige Zeit verloren durch 
die Gänge. Saß eine Weile in der Cafeteria, trank meinen Kaffee. War noch ganz 
besoffen vom Anblick dieses Stoffes, ja ein leicht nervöses Zittern übertrug sich von 
meiner Hand auf die Tasse bis zu meinen Lippen, die den Rand berührten. 
Aufgeregt war ich, als wäre ich auf Entdeckerland gestoßen. Aber worin bestand 
meine Entdeckung? 

In der Cafeteria, umgeben von Münzen, deren Grund mir immer unbekannt blieb,

hätte ich es nicht sagen können.

Die beiden Damen in Gips waren einander so innig  mädchenhaft leicht zugewandt…
und ich… ich wusste nur, daß ich das haben wollte, was Uwe M. Schneede entkleidet 
darbot, um vom Aufbruch zu sprechen. Der Zufall wollte es, daß Uwe M. Schneede 
mir an diesem Tag vor seinem Zimmer noch einmal begegnete. Ich gab mir einen 
Ruck und fragte ihn nach der alten Wandbespannung. Was damit passiere 
und ob ich nicht ein wenig davon bekommen könnte…
 “Sie hätten gerne etwas damit gemacht, aber leider, viel zu mürbe,zu nichts mehr 
zu gebrauchen…“
Als ich nicht locker ließ und trotzdem doch gern etwas davon bekommen wollte, empfahl er mir mich schriftlich noch einmal an ihn zu wenden, dann würde den Brief an Herrn B. weiterleiten, der dafür zuständig sei.
Ich schrieb einen Brief an Herrn B., der mich einige Zeit später anrief. „Was wollen Sie denn damit? Vollkommen mürbe…fällt so auseinander … ungeeignet …“ fing er das Gespräch an.
- Wenn er wüsste , dachte ich bei mir, wie ich mich selbst oft so benannt habe oder den Eindruck hatte von anderen so wahr genommen zu werden. Viel Argument konnte ich für mein Wollen auch gar nicht vorbringen…ich entgegnete immer nur, daß ich das natürlich auch wisse. „Aber trotzdem … ich würde mir gern ein paar Stücke herausschneiden dürfen…“Ach, ich hätte die handvoll Quadratkilometer diese Stoffes alle genommen, mein Atelier vollgestopft, meinen Kopf zur Not darauf gebettet und von der Kunst geträumt. ....Dem pulvrigen Seidenstaub meine Lunge hingegeben und an Dada gedacht, an den Mann der sich in Paris aus dem Fenster fallen ließ und an dessen großen Zeh schon der Zettel befestigt war, den andere nur im Leichensaal von fremder Hand zugewiesen bekommen. -
Aber nun verhandelte ich schwer um ein paar Stücken davon. Er verwies mich an die Firma ‚Diralla’, die die alte Wandbespannung – davor die Runges, davor die Marreés hingen – zu entsorgen hatte. Ja, von Entsorgung sprach er.
- schau an, das gibt’s auch hier in der Kunst. Was sagte Prof. Hiltmann an der Hochschule für Bildende Künste? „Der Künstler kennt keinen Abfall“ -
Auch Herr Diralla verstand das Anliegen einer jungen Malerin kaum, sich mürbe Seide ins Haus zu holen.
“Die reisst Ihnen so weg, als Leinwand vollkommen ungeeignet.“ Wiederholte er mehrmals. Und ich entgegnete mehrmals wiederholend, daß ich das wisse, daß mich das aber überhaupt nicht hindere etwas von dieser alten Wandbespannung haben zu wollen. „Wissen Sie, ich kann Ihnen das jetzt nicht näher erklären, aber sie darf gar nicht weniger mürbe sein, als sie ist.“
Er gab mir dann einen Termin für den September 1992. Ich sollte mich dann wieder melden. Wie abgesprochen meldete ich mich im September und bekam diesmal einen konkreten Termin genannt, an dem ich mir einige Stücke herausschneiden dürfe.Dienstag, morgens um 8.30h, war ich zur Stelle.
Beim Pförtner hieß es: „Diralla, ja die sind im Runge-Raum. Wissen Sie wo das ist?“
Als ich die Treppe hinauf ging, schoß es mir durch den Kopf, ‚…Sollte ich etwa dasGlück haben zwar keinen Mareés zu ergattern, aber etwa ein Stück Wandbespannung vor der er jahrelang hing?“
Die Treppe rechts hoch.
Die linke große Tür war verschlossen, ich nahm die rechte, über der „Alte Meister“ stand und ging weit nach oben, dann rechts, die Glastür, bis zum „Pierre de Wissant“ von Rodin, dann ein Wärter, der mir die Tür zu den verschlossenen Räumen öffnete.
Ich ging durch den ersten leeren Raum. Versuchte mich zu erinnern, was dort vor kurzem noch hing. Ein Degas, ein Renoir, ein kleiner Daumier. Ihm gegenüber hing, ja da hing ein Böcklin, daneben ein Feuerbach, aber wen interessiert das schon.
`Dort`, dachte ich bei mir, und schaute in die Ecke,`dort hing die ‚Villa Borghese’ von Marreés`.- Die braunen dunklen deutschen Bilder .-vom Glauben an die Kunst imprigniert riss der Pinsel den Schenkel malend auf. Das hab ich in München gesehen, auf meiner ersten Pilgerfahrt zu den Werken Mareés.

Jetzt?        Jetzt hing da nicht einmal mehr die alte Wandbespannung.
Eine junge Frau riss noch vom Reissen übriggebliebene Fetzen an der Wand ohne Scham lieblos hinunter und schnürte sie mit dem eigenen Brokatsaum zu einem wenig ansehnlichen Bündel. Legte es in die Mitte des Raumes zu den anderen Bündeln auf dem Boden.
’Abschied von den Eltern`ging mir durch den Kopf. Wohin mit der Urne?
Und an die Glasaugen habe ich gedacht, nun trüb. Aber was haben sie gesehen, wenn sie nun dieses Massaker zuließen?
Ich war zu spät gekommen. Die Verbrennung,

das fast spurlose Verschwindenlassen des Leichnams

und die oft darauf folgende anonyme Bestattung waren so gut wie abgeschlossen.
Diese Wandbespannung, die kurz vor ihrer totalen Entsorgung stand,

lag in Bündeln zu einem Popelfeld drapiert vor mir.
Einer der Mitarbeiter riss mich aus diesem Anblick heraus.

„Sind Sie das, die Teile der Wandbespannung haben wollte, was wollen Sie denn damit?“
“Ja, das frage ich mich jetzt auch, so kann ich mit ihr auch nichts mehr anfangen…

  

Und es hingen hier noch einige großflächige Teile der Bespannung an der Wand. Hier waren die Runterreisser noch nicht am Werk. Ich holte meine Schere und schnitt mir etwa 2m x 2m große Stücke heraus und mit einem papiernem Ton rissen sie was das Zeug hielt.
Bemühte mich mit zartem Respekt fürs Material zwischen meinen Händen um jedes Stück, breitete sie umsichtig auf dem Boden aus und legte sie zeitaufwendend in Ahnlehnung an Stoffballen zusammen. Um sie vom Boden zu heben, musste ich jedes zusammengelegte Stück mürber Seide mit den Armen unterfassen und trug sie einzeln wie leblose Kinderkörper ein wenig vielleicht sogar  vorwurfsvoll an Wärter und Kuratoren vorbei, durch die gesamte obere Etage der Kunsthalle, die Treppe hinunter, vorbei am Kupferstichkabinett, bis zum Ausgang. Mehrmals ging ich diesen Weg, den ich gekommen war und kam mir so reich an Lumpen auf meinen Armen vor. Naßgeschwitzt vom hin und her, rotgesichtig von der Aufregung. Die Wärter und Wärterinnen nahmen langsam ihre Plätze ein. Mehr als eine Stunde sorgte ich an diesem Tag für ihre Unterhaltung. Es war eine fast unbemerkte und von niemanden dokumentierte Kunstaktion, von der keiner der Beteiligten wusste, daß es sich um so etwas wie Kunst handelte, als es gerade geschah.

Es gab Sätze wie diese von mir;
“Keine Angst, da ist kein Marreés drin, der Wärter und ich lachten einander zu.

Natürlich nicht!  -  aber was wusste der schon -.
Oder ich sagte; „Zeitgenössische Malerei ist schweißtreibender als die Malerei von gestern.“   Wir lachten einander zu, aber was wussten wir schon.

Als ich meine wenigen Stoffballen-Imitate im Auto verstaut hatte, muß mich doch der Hafer gestochen haben, lief ich doch plötzlich wieder und wieder mit diesen Bündel durch die Kunsthalle hin zum Auto.
In diesen in der Hamburger Kunsthalle erstellten Nasenpopel, scheint mir der Glaube an die Magie, die Macht des Bildes (Löcher in die Wand zu brennen), endgültig verpackt und fast unbemerkt aus dem Museum geschleust worden zu sein. Wer glaubt denn noch an die fressende, beizende Wirkung des Bildes? Ernsthaft ans gemalte Bild?


Die Firma `Diralla`hat im Auftrag des Kunsthallen-Direktors vielleicht doch mehr entsorgen lassen,als nur eine alt und mürb gewordene Wandbespannung.

 

 

 

Eröffnung der Ausstellung / Dr. Iris Engelke

"Susann Stuckert - Warum die Kunst nicht mehr an die Kunst glaubt"

Arbeiten auf der ehemalige Wandbespannung der Kunsthalle Hamburg, 2.2.2005, 19:00 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren, guten Abend!

Diese Ausstellung hat einen wirklich merkwürdigen Titel. Ich muss gestehen, ich habe die letzten Tage ziemlich geflucht, dass ich überhaupt zugesagt habe, hierzu eine Rede zu halten - und zwar höchstens in 10 bis 15 Minuten, weil das so meine Art ist zu Vernissagen. Schon letzten Sonnabend haben Susann und ich uns vier Gesprächsstunden zu Gemüte geführt. Wahrscheinlich wäre es also eher angebracht, zu diesem Thema mal eine Diskussionsrunde oder ein Symposion zu veranstalten.

"Warum die Kunst nicht mehr an die Kunst glaubt", so steht es auf der Einladung - und so, als wollte unsere gute Gastgeberin noch einen Scheit drauf legen, las ich dann vorgestern auf der Ausstellungsliste: "Warum die Kunst schon lange nicht mehr an die Kunst glaubt". Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Na ja, ich hätte ja auch "nein" sagen können...

Immerhin, Sie sind ja gekommen. Wahrscheinlich aus dem selben Grund, weswegen ich auch zugesagt habe. Weil wir Susann Stuckerts Werke lieben und schätzen und damit auch ein Stück weit sie selber, so wie sie sich uns in ihrem Werk vermittelt.

Intelligent, schnell, belesen, sprachgewandt, mit weit geöffneten Sinnen, zupackend, bereit, die scheinbar unmöglichsten Dinge in Gang zu bringen und dennoch auch empfindsam, die zarten Gewebe erkennend, die am schwersten wahrzunehmen sind, leise, bescheiden. Eine richtige Künstlerin also.

Sie zeigt Ihnen heute Arbeiten, die seit 1993 auf der ehemaligen Wandbespannung der Hamburger Kunsthalle entstanden sind. Übrigens waren es die ersten, die ich von ihr überhaupt zu Gesicht bekommen habe. So lange ist das nun auch schon her...

1997 wurden einige dieser Werke im Messberghof gezeigt. Die Rede, die Susann Stuckert zu diesem Anlaß vorbereitet hat, ist in dem Bild mit dem Titel "In Erinnerung an die Galerie der gegenwärtigen Vergänglichkeit" aufgedruckt. Sie erinnern sich vielleicht noch, 1997 ist das Einweihungsjahr der "Galerie der Gegenwart" der Hamburger Kunsthalle: viel diskutierte Architektur, etwas anmaßende Ortsbezeichnung angesichts der Flüchtigkeit des Gegenwärtigen.

Die Firma Diralla, die die Entsorgung der Tapete aus Rohseide für die Kunsthalle damals, Ende 1992, vornahm, ist in dem  Bild "In Erinnerung an die Galerie die gegenwärtigen Vergangenheit" verewigt.

"Verewigt" in der Kunst klingt heute geradezu wie ein Witz, wollte man Stuckerts Anliegen, etwas von dem alten Zeug haben zu wollen, doch damals mit den Worten entkräften, dieser Stoff sei ja nun, da minderer Qualität, wirklich zu nichts mehr nütze und würde bei der geringsten Berührung schon auseinanderfallen. Das ist jetzt allerdings schon fast dreizehn Jahren her.

In beiden Arbeiten - und ich bleibe mal bei diesem Wort "Arbeiten", da Susann es auch so benutzt - ist der Stoff der ehemaligen Wandbespannung nun selbst zum direkten Bildträger geworden. Die Verkleidung einer Wand ist mit Stuckerts Hilfe aus dem Hintergrund in den Vordergrund gerückt, liegt nun auf einer Holztafel statt unter ihr.

Kunsthistorisch wird es übrigens schon länger als Errungenschaft gewertet, dass die Bilder von der direkten Wandbemalung durch den Sprung auf ein Vermittlermaterial an Mobilität gewannen und das Tafelbild "erfunden" wurde...

Stuckert dokumentiert in diesen ihren Werken:

sie berichtet die Geschichte, wie sie an die Rohseide kam, welche Überzeugungsarbeit sie aufbringen mußte, wie sehr man sie belächelt hat, wie man sie loswerden wollte, ihre Entrüstung, wie mit diesem Material, vor dem einst Werke großer Meister hingen, umgegangen wurde.

Sie läßt uns teilhaben an diesem Gefühl, das einem in der Magengrube entstehen kann, wenn man einem fühllosen, gedankenlosen Zerstören zuschauen muß, das am Ende nur noch ein entwürdigtes Häufchen zurück lässt, wie diese Bündel, die man ihr überlassen wollte. Das, was wir heute hier zu sehen bekommen, haben wir einem anderen Verständnis von Material zu verdanken, nämlich einem liebevoll ehrfürchtigen und unkonsumistischen gleichermaßen. Auch dies, gebe ich zu, vielleicht schwierig beladene Begriffe, die sich aber im Verlauf noch selbst besser erklären werden.

1992, also beschlossenermaßen vorbei die Zeit, als diese Seide, wie das Innere eines Schmuckkästchens die Kunst-Räume für die Schätze auskleidete, auf das sie geschützt und edel ihren Platz einnehmen konnten. Klingt es biedermeierlich und nicht mehr hochherrschaftlich? Nun, so waren die Orte an denen die Kunst zuhause war: heilig, herrschaftlich, großbürgerlich, dann zunehmend kleinbürgerlicher und heute prinzipiell überall und sei es nur als Postkarte.

Doch diese Seide sah und berührte noch Meister wie Anselm Feuerbach, Hans von Marée, Caspar David Friedrich, Philipp Otto Runge - keine repräsentative, aber auch eine nicht ganz wahllose Auswahl an Namen. Diese Seide sog noch die Terpentine der Holzrahmen, den Duft der Firnisse, der Lösungen der ersten Tubenfarben in sich ein, kam in Berührung mit der Kraft und der Ausstrahlung der Werke, mit der noch nachschwingenden Energie der Gedanken, der Inspiration und dem Wirken des Künstlers, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er mit seinem Werk soweit zufrieden sein konnte, um mit einem inneren: "fertig!" zurück zu treten.

Dies für zirka vierzig Jahre, nur oder immerhin? Um doch dann als reife, vielleicht etwas fleckige, doch süße Frucht, gepflückt und ins Meer geworfen zu werden, so wie wir es mit den Äpfeln tun, die zuviel "produziert" den Marktpreis erschütterten, würden sie uns angeboten.

Oder ist dies hier doch eine Art Reliquienkult?

Sicherlich ist es auch legitim für eine Kunsthalle, mal die Wandbespannung zu verändern - vor allem, wenn von niederer Qualität, und das eine passt ja nicht zum anderen: teure Kunst auf billiger Tapete..., na ja, sie stammte aus der Zeit kurz nach dem Krieg, wahrscheinlich konnte man sich als schuldiger Verlierer und Bombenopfer kein Moirée leisten.

Und außerdem, Sie können ja selbst am "Schweißtuch" erkennen, wieviele "Tränen" sich zu einer Pfütze in der Wand gesammelt haben. Wer mag um das Bild geweint haben, das hier sein Leuchten hinterlassen hat und seine Corona aus Staub? Vielleicht wollte es eine Kinderhand trösten, vielleicht hat dies Kind seinen Ärger auch nur in die Wand gehauen, weil es schon längst gelangweilt und eifersüchtig vom Schweigen, von der stickigen Luft und vom ewig langen Herumstehen war.

Auch dies ein Stück weit Stuckerts Dokumentation, vor allem dieses Los-Werden-Wollens, des nicht mehr Sichtbaren, oder vielmehr des überhaupt nicht Sichtbaren. In dieser Arbeit kommt man auch in Berührung mit dem Auratischen in der Kunst. Sie denken an Romantik? Das ist in Ordnung, solange Sie darin das unwidersprüchlich Versammelte von Geist, Natur, Gefühl und Identität erkennen. Denn wenn wir uns weiter in der Dualität und damit der Gegensätzlichkeit von Begriffen bewegen, ohne die Verbundenheit in den Grauwerten zu sehen, sind wir leicht beim Urteil: wertvoll oder nicht, behalten oder wegwerfen, nützliche Kunst oder keine Kunst. Ein bißchen Sarkasmus sei mir auch erlaubt.

Es ist ja auch kein Zufall, dass nun Stuckert gerade den Runge wieder auf die wiederbelebte Tapete bringt: "Amaryllis formosissima" und das "Natur künstlich" nennt. Wir sehen eine Zwiebel, einen Stengel, eine Blüte. Alles fein säuberlich geputzt, ohne den Schoß der Erde, ohne den Grund also, die Verwurzelung, ohne den Geruch. Eine von den Elementen gereinigte Vorstudie Runges, deren Einzigartigkeit, Schönheit, Zartheit und Kraft auch durch die recht wissenschaftliche Betrachtungsweise kaum beeinträchtigt wird. Stuckert macht uns so auf eine noch andere Art der Dokumentation aufmerksam. Diese wissenschaftliche, mit einer gewissen Symptomatik behaftete, versucht so klar und deutlich zu sein, wie es nur geht, um der Wirklichkeit zu entsprechen oder vielmehr ihrem Ideal der Wirklichkeit und spart dabei den Hinweis auf den "Grund" ihres Seins aus. Wenn der Verstand den "Grund" beseitigt, wird er nicht nur nie das Ganze erkennen können, sondern womöglich den Körper zum leblosen Leichnam machen, sich damit selbst ins Jenseits katapultieren. So wie im Modellversuch zum Hamburger Feuersturm verbildlicht.

Wie weit sind wir auf einem solchen Weg? Immer mehr stelle ich einerseits eine Entkörperlichungstendenz fest: fortschreitende Kocketterie mit Digitalisierungstechniken, das Konkurrieren mit künstlichen Intelligenzen als Überlebensstrategie für den endlichen Menschenkörper, ebenso das Klonen etc. Vieles versucht diese Endlichkeit des Leiblichen aufzuheben..., es steckt eine Negierung des Körperlichen darin.

Auch Welschs Anästhetisierungsprognose hat sich schon längst in der Gesellschaft in einem Maße verwirklicht, die ich mir vor 20 Jahren noch nicht vorstellen konnte. Die Sinne werden überlastet von selbstgeschaffenen Umwelteinflüssen: Werbung, Sounds, Informationen und schalten sich ab, ein Prozess des Sich-Abschottens.

Andererseits begegnet mir auch eine große Sehnsucht nach Leitung, Erlösung, gar Erleuchtung. Eine Verlangsamung und Entleerung findet statt. Viele reduzieren sich dabei in ihrer manchmal laut hervorgebrachten Erkenntnis von Welt, die durch Medien und Multiple-choice-Verfahren oder Wochenendseminare vermittelt wird, auf eine kleine Ölpfütze, die zwar regenbogenfarben schimmern mag, aber trotzdem nur ein Tropfen auf einem Ozean bedeutet.

Wieder gibt es darin kaum die Mitte. Wo ist heute die Verortung der Leute, die noch in den 70er Jahren eine große Plattform hatten, die versuchten, zwischen die Pole zu gehen, um in diesem, viel größeren Raum zu leben. Pole sind Punkte, fokussierte Orte, die unser Verstand liebt, weil dort alles einfach und klar zu sein scheint. Die Räume dazwischen, sind die, wo das Leben ist, da wo die Natur ist, die Physis, da wo es keine Trennung gibt, denn das Sichtbare und Unsichtbare sind immer zusammen da. Mit gefällt halt einfach der Satz von Martin Heidegger: "Wir sind schon immer in der Wahrheit."

Aber an das Nicht-Sichtbare können wir eben nur glauben und das ist das Problem. Denn der Glaube hat mit Vertrauen zu tun und in beidem haben wir entweder wenig Übung oder dumme Erfahrungen gemacht.

In der Aura eines Kunstwerkes schwingt noch ein Stück weit der Glaube am Unsichtbaren und damit am Erhabenen mit. An der Art wie Stuckert mit Material umgeht und wie sie es in die jeweilige Gegenwart holt auch. Nicht nur als Erinnerung, nicht nur als Dokumentation, sondern als ein Werk, in dem diese gegensätzlichen Dualitäten keine Rolle spielen. Es ist der Glaube daran, dass Material gepaart mit Geist Kunst ergeben kann. Dadurch hat es für mich etwas Kraftvolles.

Kann sein, dass die Kunst vor einer neuen Definition steht. Letztlich ist/war der Kunstbegriff eigentlich immer durch eine kulturelle Einigung der Gesellschaft, wie auch immer diese war, ob christlich, höfisch oder bürgerlich, eine künstliche Angelegenheit und die Kunst bis ins 20. Jahrhundert immer nur wenigen vorbehalten.

Meine und Stuckerts Generation - und das meine ich einfach nur historisch - hatten das "Glück" und die Last zugleich, in eine Art Zwischenraum geboren zu werden: zwischen die 68er Hippies oder militant Gewordenen und die Punks. Für die einen waren wir zu jung, für die anderen zu alt...

Wir kennen noch das Stellung-Beziehen mit Argumenten und die Kritik an Positionen, ebenso wie den Hang zum Anarchismus. Der Anschluß an feste Meinungen fällt uns daher schwer, vielleicht laufen wir darum so oft mit der Frage nach dem "Warum?" auf den Lippen herum... Immerhin hält es uns davon ab, in den Zwischenraum der Beliebigkeiten hereinzufallen, der mir heute als Ölpfütze so oft zu Gesicht kommt.

Unverschuldet haben wir auch die Last des historischen Erbes der beiden Generationen vor uns zu tragen, ihr Scheitern, ihre Schuld, ihre Ängste, ihr Versuch zu Vergessen, ebenso unverschuldet aber auch das Gepäck ihrer Güte und ihrer Fähigkeit zu Glauben und zur Präzision. Beides soll einen angemessenen Platz in unserem Gedächtnis haben, denn es ist ein Teil unserer Identität.

Vielleicht war es irgendwann ein Fehler, Kunstwerke als Arbeiten zu bezeichnen, denn damit hat sich die Künstlerschaft selbst zum bruttosozialproduktiven Mitglied der Gesellschaft gemacht und zwar einer Konsum- und Profitgesellschaft, und da, kann ich Euch sagen, wird mit harten Bandagen gekämpft, umso mehr, wenn die Klassen wieder klar auf zwei reduziert sind - eine Tendenz, die in den 80er Jahren erneut begonnen hat -. Wollen wir uns entscheiden, zu welcher wir gehören wollen, oder wollen wir das große Meer dazwischen bewohnen?

"Wenn die Natur nicht mehr Gegenstand der inneren Einkehr und der Verehrung ist, kann sie nicht mehr sein als Rohstoff für eine Handlung, die darauf abzielt, sie zu verändern."

Mit diesem Satz von Albert Camus, den Vine Deloria 1983 in seinem Text über "Geschichte und Natur" zitiert, möchte ich schließen. Vine Deloria ist übrigens Theologe und Jurist vom Stamm der Sioux Indianer aus South Dakota.

Es ist längst nicht alles gesagt, aber an diesem Punkt möchte ich mich bei Susann Stuckert, stellvertretend für all die Künstler, die ich in Hamburg kennenlernen durfte, und für Ihr Engagement in Sachen Kunst bedanken.

Ihnen, die Sie sich inspirieren lassen, oder die Sie den Glauben an die Kunst doch noch nicht verloren haben, danke ich für Ihre Aufmerksamkeit!

Hinweis zur Veröffentlichung im Internet:

Bitte bedenken Sie bei der Lektüre dieses Textes, dass er als Redetext konzipiert ist und sich daher an der Lebendigkeit und Qualität des gesprochenen Wortes orientiert! Falls Sie dennoch Stellen daraus zitieren möchten, würde ich mich über einen Hinweis Ihrerseits über Ort und Anlass freuen.

Text:Dr. Iris Simone Engelke, Stammannstraße 31, 22303 Hamburg T.: 040 / 2705231, M: 0171.8243011, eM: dr-engelke@gmx.de

VG-Wort-Nr: 9300912

Hamburg, im Februar 2005

Recherche:

Vine Deloria "Geschichte und Natur" (Einführung des Buches "God is Red" von 1983), in: Indianische Welten, "Der Erde eine Stimme geben", hrsg. von Claus Biegert, Rowohlt Lesebuch, 1992, S. 236-248

Delorie ist vom Stamm der Sioux-Indianer aus South Dacota und promovierter Theologe und Jurist.

darin Albert Camus, S. 244: "Der große Konflikt dieses Jahrhunderts ist weniger der zwischen deutschen Ideologien, Geschichte und christlichen politischen Vorstellungen, die sich in gewisser Weise gleichen, als der zwischen deutschen Träumen und der mediterranen Überlieferung, das heißt, zwischen Geschichte und Natur.

Das Christentum konnte zweifellos seine Allgemeingültigkeit nur deshalb erlangen, weile s soviel wie möglich vom griechischen Gedankengut aufnahm. Aber seit die Kirche ihr mediterranes Erbe wieder Aufgabe, betonte sie auch die Geschichte zum Nachteil der Natur und ließ das Gotische über das Romanische triumphieren. Indem sie sich über ihre eigenen inneren Grenzen hinwegsetzte, stellte sie immer größere Ansprüche an weltliche Macht und historische Dynamik. Wenn die Natur nicht mehr Gegenstand der inneren Einkehr und der Verehrung ist, kann sie nicht mehr sein als Rohstoff für eine Handlung, die darauf abzielt, sie zu verändern. Diese Tendenz - und nicht das Mittleramt, das die wahre Stärke des Christentums gewesen wäre - beherrschen heute das Christentum zu seinem eigenen Schaden und in einer gerechten Umkehr der Dinge."

darin C.G.Jung, S. 246: "Die jungfräuliche Erde hat es überall an sich, daß wenigstens das Unbewußte des Eroberers zur Stufe des autochthonen Bewohners hinuntersinkt. So besteht im Amerikaner eine Distanz zwischen bewußt und unbewußt, wie sie im Europäer nicht anzutreffen ist, eine Spannung zwischen bewußter Hochkultur und einer unvermittelten unbewußten Primitivität. Diese Spannung ist aber ein psychisches Potential, welches dem Amerikaner eine durch nichts beeinträchtigte Unternehmungslust und einen schlechthin beneidenswerten Enthusiasmus verleiht, den wir in Europa nicht kennen. Gerade durch die Tatsache, daß wir noch im Besitz unserer Ahnengeister sind, das heißt, daß für uns alles historisch vermittelt ist, stehen wir zwar in Kontakt mit unserem Unbewußten, sind aber eben durch diesen Kontakt auch gefangen und in historischer Bedingtheit dermaßen befangen, daß es schon größter Katastrophen bedarf, bis wir uns aufraffen, uns zum Beispiel politisch nicht mehr so zu benehmen wie vor fünfhundert Jahren."